Wer sind die Kelten? Teil 2
Signation und Outro, Musik: Tin whistle by louis_audp, shared on Freesound, CC Attribution 3.0 license
Jingle, Musik: Irish dancing by tim.kahn, shared on Freesound, CC Attribution 3.0 license
Schon in der Antike und auch in den Neuanfängen des Begriffs im 18. Jahrhundert gab es keine eindeutige Definition der Kelten. Was die Auseinandersetzung mit diesem Themenkreis nicht unbedingt einfach gestaltet. Und auch in der weiteren Entwicklung hat sich der Begriff noch weiter ausgefächert. Im 19. Jahrhundert spalteten sich die Altertumswissenschaften nämlich in zahlreiche Einzelfächer auf. Zuerst entstand die historische Sprachwissenschaft als eigene Disziplin, kurz darauf die Geschichtswissenschaft, gefolgt von der Kunstgeschichte, der Archäologie und, mit letzterer eng verwandt, der Kulturanthropologie. Die Kulturanthropologie wiederum blieb ihrerseits eng mit der physischen Anthropologie bzw., wie man sie damals oft auch noch nannte, der Rassenlehre verbunden. Jede dieser neuen Spezialdisziplinen beschäftigte sich mit der Menschheitsgeschichte – in manchen Fällen inklusive der Zeitgeschichte und auf Basis unterschiedlicher Quellengattungen. Nachdem sich all diese Spezialdisziplinen auch mit Quellen aus dem vorrömischen Mittel- und Westeuropa beschäftigten, übernahm jede sehr rasch den diffusen Keltenbegriff des 18. Jahrhunderts. Jede Disziplin passte dafür diesen Begriff selbstverständlich für die eigenen Zwecke bzw. an das von ihr untersuchte Quellenmaterial an. So entstand eine ganze Reihe parallel nebeneinander existierender wissenschaftlicher Keltenbegriffe.
Für Sprachwissenschafter war ab diesem Zeitpunkt ein Kelte jemand, der eine – erstmals von Edward Llwyd als solche bezeichnete – ‚keltische‘ Sprache sprach. Für Historiker war ein Kelte hingegen jemand, der in antiken Nachrichten als Kelte bezeichnet wurde oder aus einem Land stammte, das antiken Autoren als Keltenland galt. Für Kunsthistoriker wiederum war jemand ein Kelte, der eine bestimmte Art von Kunst – eben ‚keltische‘ Kunst – produzierte oder benutzte, während es für Archäologen jemand war, der eine bestimmte – eben ‚keltische‘ – Art von Materialkultur produzierte. Und für die Rassenlehre des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war jemand ein Kelte, dessen Skelett gewisse, z. B. am Schädelknochen genau messbare, Verhältnisse und sonstige Eigenschaften hatte. Das Problem bei der ganzen Sache ist: jemand, der eine keltische Sprache spricht muss noch lange keine keltische Kunst produzieren, nicht keltische Materialkultur haben und schon gar nicht von irgendeinem antiken Autor als Kelte bezeichnet werden.
Die Vorstellung des völkischen Nationalismus – die sich letztendlich aus mittelalterlichen und biblischen Abstammungsmythen wie der Geschichte des Turmbaus zu Babel ableiten lässt – hat ebenso die Versuche geprägt, die im 19. Jahrhundert entstandenen, unterschiedlichen Definitionen des Keltenbegriffs aus den verschiedenen Einzelwissenschaften miteinander in Einklang und Übereinstimmung zu bringen. Dies geschah in der Zeit zwischen dem späten 19. Jahrhundert und etwa der Mitte bzw. dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts. Viele Wissenschafter*innen haben daher die historischen Verbreitungsgebiete keltischer Sprachen, keltischer Materialkultur, Erwähnungen der Kelten in antiken Nachrichten und so weiter in ihrer jeweiligen Verbreitung als räumlich und zeitlich deckend angenommen. Sie imaginierten eine einzige gemeinsame Abstammungsquelle, eben z.B. den Ort Hallstatt in Oberösterreich bzw. die von den ArchäologInnen nach diesem Ort benannte Hallstattkultur.
Diese Vorstellung lebt bis heute im populären Keltenverständnis fort. Vor allem, dass die Kelten eines der ‚großen Urvölker Europas‘ gewesen wären, wie man es immer wieder einmal hört oder liest. Die heutige keltologische Wissenschaft geht davon aus, dass es ‚die Kelten‘ in der Form, wie sie dem modernen populären Keltenbegriffsverständnis entspricht, niemals gegeben hat. Das soll nicht bedeuten, dass es nicht irgendwann einmal in der Spätbronze- und Eisenzeit eine Bevölkerungsgruppe gegeben hat, die wohl irgendwo im Raum des heutigen Frankreichs lebte und sich selbst als Kelten bezeichnet hat. Es soll auch keineswegs bedeuten, dass es nicht heute Iren, Schotten, Waliser und Bretonen gibt, die sich selbst als Kelten verstehen. Aber es bedeutet, dass ‚die Kelten‘ nicht eines der ‚großen Urvölker‘ Europas waren, mit eigenständiger und innerlich einheitlicher Sprache, materieller und immaterieller Kultur, Sitten und Gebräuchen und einem in der Wirklichkeit gar nicht erreichbaren biologischen Reinheitsgebot entsprachen. Der wissenschaftliche Fachbegriff ‚Kelten‘ ist vielmehr ein von verschiedenen Wissenschaften mit unterschiedlichen Bedeutungen gefüllter Begriff, dessen unterschiedliche Bedeutungen nur sehr lose miteinander zusammenhängen. Und dieser lose Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Keltenbegriffen ist die historische Begriffsentwicklung.
Die Kelten haben daher keinen gemeinsamen Ursprung an einem bestimmten Ort und bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit. Vielmehr entstehen die Kelten in der Gegenwart in unserer Vorstellung und in unseren wissenschaftlichen Definitionen. Je nachdem, wie wir diese Definitionen wählen, kann dieselbe Person, die in der Vergangenheit gelebt hat oder in der Gegenwart lebt, entweder ein Kelte sein oder auch nicht. Verwendet man also eine sprachwissenschaftliche Definition des Keltenbegriffs sind die Sprecher gegenwärtiger keltischer Sprachen Kelten. Die anderssprachigen Produzenten eisenzeitlicher keltischer Materialkultur hingegen nicht. Nimmt man hingegen eine archäologische Definition des Keltenbegriffs, dann sind die Produzenten eisenzeitlicher keltischer Materialkultur Kelten, die Sprecher gegenwärtiger keltischer Sprachen hingegen nicht.
Die Begriffe ‚keltisch‘ und ‚Kelten‘ meinen also jeweils etwas anderes, je nachdem, in welchem Sinnkontext sie verwendet werden. Es gibt daher nicht eine richtige Antwort auf die Frage, wer die Kelten sind, sondern nahezu unendlich viele. Auf die Frage, woher sie kommen, gibt es hingegen entweder ebenso viele Antworten, je nachdem welche Definition des Keltenbegriffs man wählt.
Die Keltologie, also die Wissenschaft, die ‚die Kelten‘ erforscht, beschäftigt sich schlussendlich mit all diesen unterschiedlichen Kelten, die sich aus den verschiedenen Definitionen ergeben. Für die Keltologie als Forschungsgebiet ist etwas interessant, wenn der Untersuchungsgegenstand einer Definition des Keltenbegriffes genügt.