Keltenpodcast – Episode 10

Keltisches Recht und Gesellschaftsordnung



Die antiken österreichischen Kelten haben keine eigenen schriftlichen Geschichtszeugnisse hinterlassen, so ist es recht schwierig, Genaueres zur Gesellschaftsordnung der keltischen Bevölkerungen in unserem Raum zu sagen. Das wenige aus historischen Nachrichten, stammt in erster Linie von römischen Autoren, oft im Kontext militärischer Auseinandersetzungen und ist daher alles andere als objektiv und detailgetreu. Folge davon ist, dass die antiken Kelten oft als primitive Barbaren missverstanden werden, die Streitigkeiten in erster Linie mit Gewalt zu lösen versuchten und deren Gesellschaften sehr einfach organisiert waren. Bei genauer Betrachtung der Informationen über antike keltische Gesellschaften in und jenseits des heutigen Österreich zeigt sich jedoch ein deutlich anderes Bild als das der Kelten als unzivilisierte Barbaren. Die ersten Kelten, über deren Gesellschaftsordnung wir aus historischen Nachrichten etwas Genaueres erfahren, lebten im 4. und 3. Jahrhundert vor Christus in der norditalienischen Poebene und in den Tälern der südlichen Alpen. In dieser Zeit kamen sie mit den langsam zur Vormacht in Italien aufstrebenden Römern in Konflikt. Dabei zeigt sich deutlich, dass die keltischen Gegner der Römer nicht ein einheitlicher Block sind, sondern zahlreiche verschiedene, teilweise auch unterschiedlich organisierte, kleinere Gesellschaften. Ein Bild, dass sich durch die Zeiten in allen Räumen wiederholt, die laut antiken Autoren von Kelten besiedelt sind. In der Poebene lassen sich in dieser Zeit fünf größere keltische Gruppen fassen, jede politisch unabhängig in ihren Handlungen: die Biturigen, die Boier, die Cenomanen, die Insubrer und die Senonen. Aus Sicht der antiken Autoren jeweils ein eigenständiger Staat, wie es zu Beginn des 4. Jahrhunderts vor Christus in Italien viele andere gab.

Manche dieser fünf keltischen Staaten wurden wenigstens zu manchen Zeiten von einem einzelnen König geführt; hatten wenigstens manchmal zwei gleichberechtigte Könige, die nebeneinander herrschten. Für einige dieser Staaten sind wiederum zeitweise als Anführer sogenannte reguli belegt. Der Begriff regulus ist eine Verkleinerungsform des lateinischen Begriffs für den König, am ehesten als ‚Kleinkönig‘ zu übersetzten. Das deutet auf einen föderalen Aufbau des betreffenden Staates, und nicht auf ein zentralisiert organisiertes Königtum – also ein Verband aus vielen verschiedenen miteinander verbündeten kleineren Gruppen, deren jeweilige Anführer im Krisenfall eventuell aus ihrer Mitte einen Oberkommandanten gewählt haben. Andere dieser Staaten haben wiederum in einigen Fällen einen Senat oder Ältestenrat geschaffen, der über die politischen Geschicke der Gemeinschaft entscheiden könnte und bei Bedarf bzw. in mehr oder minder regelmäßigen Intervallen Anführer ernennt oder wählt. Es könnte sich hierbei entweder aristokratische oder eventuell sogar im antiken Sinn demokratisch organisierte Gesellschaften gehandelt haben. Demokratisch bedeutet nicht unbedingt wie heute, dass jeder erwachsene Staatsangehörige aktiv und passiv wahlberechtigt ist. Wahrscheinlicher ist, dass in solchen Staaten z. B. nur alle Landeigentümer Stimmrecht hatten, eventuell sogar nur Angehörige einer kleineren Adelselite in führende Positionen gewählt werden konnten.

Diese Staaten dürften intern jeweils ein Zusammenschluss verschiedener kleinerer, mehr oder minder autonomer Gruppen gewesen sein – unabhängig von der Herrschaftsform des jeweiligen Staates. Über die Boier wird berichtet, dass sie aus 112 Untergruppen bestanden. Wir wissen aus historischen Nachrichten auch, dass sie um 225 v. Chr. ein Doppelkönigtum hatten, auch eine Reihe von in der Führung des boischen Gemeinwesens aufeinanderfolgenden reguli (einzeln oder als zwei gemeinsam agierende Führer erscheinend) und schließlich 192 vor unserer Zeitrechnung einen Senat, der aus wenigstens 100 Personen bestanden haben dürfte. Ähnliches findet sich bei den sogenannten ‚Alpenkelten‘ im frühen 2. Jahrhundert vor Christus: um 183 vor Christus ist ein Ältestenrat als Entscheidungsgremium belegt, nahezu gleichzeitig werden aber auch reguli erwähnt. Um 170 vor Christus spricht eine Delegation des Cincibilus, eines Königs der Alpenkelten, in Rom vor und erhebt Klage über Plünderungszüge des römischen Konsuls Gaius Cassius in den Südostalpen. Cincibilus‘ eigener Stamm war nicht betroffen gewesen, vielmehr erfolgte die Beschwerde in Rom für seine Bundesgenossen. Wir fassen im Alpenraum also einen König, der im Namen einer Föderation verschiedener Bevölkerungsgruppen spricht. Ob es sich dabei bereits um das Regnum Noricum gehandelt hat, lässt sich aus den erhaltenen Quellen nicht ableiten. Das Königreich Norikum war ebenso wie viele andere frühe keltische Staaten ein mehr oder minder stabiler Zusammenschluss mehrerer kleinerer Einheiten, das ist ebenfalls gut belegt. So eine Bündnisstruktur schenit für die keltischen Gesellschaften – wenigstens im Zentral- und Ostalpenraum – einigermaßen typisch gewesen zu sein. Caesar zum Beispiel berichtet in der Mitte des 1. vorchristlichen Jahrhunderts für die Helvetier so eine Struktur, bei der einzelne Untergruppen weitgehend autonom waren und mehr oder minder unabhängig politisch und militärisch handlungsfähig.

Bei allen Unterschieden dürfte dieses Phänomen eine charakteristische Folge des in den meisten keltischen Gesellschaften der Antike weit verbreiteten Klientelwesens gewesen sein. Der Begriff Klientel beschreibt im wesentlichen ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis zwischen zwei Parteien: einer mächtigeren, wohlhabenderen und im Verhältnis dominanten Person, dem Patron; und einer diesem aufgrund des Schutzes, der Förderung und Unterstützung des Patrons zu Dank und diversen Gegenleistungen verpflichteten, untergeordneten Person, dem Klienten bzw. Vasallen. Eine solche Beziehung lässt sich auch zwischen Gesellschaftsgruppen bilden, wenn diese intern ebenfalls entlang von Klientelbeziehungen strukturiert waren und ein Anführer sich freiwillig dem Anführer einer anderen Gruppe unterwarf oder von diesem gewaltsam unterworfen wurde. Nach diesem Prinzip aufgebaute Staatswesen können auch als Gefolgschaftsverbände bezeichnet werden. Die Herrschaftsform ist davon abhängig, wie die Kräfteverhältnisse zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen und deren jeweiligen Anführern sind. Ist eine Bevölkerungsgruppe bzw. deren Anführer deutlich überlegen, ist das Resultat eine Monarchie: Konkurrenten werden der überlegenen Gefolgschaft angliedert und es herrscht ein König. Gibt es zwei etwa gleich mächtige Gruppen, kann sich ein Doppelkönigtum ausbilden, bei mehreren etwa gleich mächtigen Gruppen kommt es zu einer Adelsherrschaft bzw. eventuell sogar zu einer antiken Demokratie.

Machtverhältnisse können sich jedoch innerhalb einer bestimmten Gesellschaft sehr rasch ändern. Und es scheint auch bei den norditalienischen und alpinen Kelten, wohl auch bei den gallischen Kelten und den Briten der Fall zu sein. Die politische Situation war also veränderlich, ebenso wie die militärische Situation, große Gefolgschaftsverbände bilden sich rasch und noch rascher konnten sie wieder zerfallen: ein erfolgreicher König oder Anführer konnte rasch andere unterwerfen oder diese schlossen sich freiwillig an. Umgekehrt konnte eine einzige Niederlage dazu führen, dass große, gemeinsam militärisch agierende Gruppen binnen weniger Wochen oder noch schneller vollkommen in ihre Bestandteile zerfiel. Im Prinzip ist ein solches Klientelsystem ähnlich dem mittelalterlichen, ebenso auf persönlichen Gefolgschafts- und Unterordnungsverhältnissen beruhende Feudalsystem. Der wichtigste Unterschied dürfte gewesen sein, dass in der Eisenzeit die Landeigentumsverhältnisse noch nicht zugunsten des Adels verschoben gewesen sein dürften und daher Klienten mehr Auswahl hatten, welchem Herren sie sich unterwerfen wollten. Also dürfte mehr Konkurrenz unter den Adeligen um Klienten geherrscht haben als das im Mittelalter der Fall war, weshalb die Stellung der Klienten besser war als die mittelalterlicher Leibeigener. Dennoch: das eisenzeitliche Klientelsystem war weitgehend zweifelsfrei der Vorläufer der mittelalterlicher Feudalsysteme, deren Terminologie für die wichtigsten Rollen – der des Hofbeamten und des Vasallen – von keltischen Worten abgeleitet ist. Das deutsche Wort Beamter leitet sich über Gallisch ambactos von einem keltischen Wort *ambi-actos ab, was etwa ‚im Auftrag jemandes anderen handeln‘ bedeutet. Das Wort Vasall hingegen von einem keltischen Wort für ‚Knabe, junger Mann‘ und weist auf das soziale Abhängigkeitsverhältnis zwischen Patron und Klient hin. In diesem Verhältnis ist der Klient wie ein junger Sohn des Patrons, der ihm Gehorsam und Arbeit schuldet.

Auf politischer Ebene ist ein solches Gefolgschaftssystem inhärent instabil, sobald ein höherrangiger Patron Macht oder Leben verliert, müssen die persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen dem bzw. den Nachfolger(n) und den Klienten neu etabliert werden. Die Folge sind konstante interne Streitigkeiten, da es nur eine beschränkte Anzahl von möglichen Klienten in jeder Gesellschaft gibt. Ein Adeliger mit Ambitionen muss also entweder innerhalb seiner Gesellschaft Klienten abwerben oder durch militärische Angriffe diese in seine Klientel zu zwingen zu versuchen. So instabil ein solches System auf politischer Ebene ist, so stabil ist allerdings das System selbst, das auf einem entwickelten Vertragsrechtsverständnis beruht, in einem stabilen Gewohnheitsrechtssystem, in dem Gesetze nicht oder nur sehr bedingt von dem bzw. den aktuellen politischen Machthabern gemacht werden. In vorschriftlicher Zeit werden Gesetze nicht einfach aufgeschrieben und verlautbart, sondern von Generation zu Generation tradiert, mündlich weitererzählt und praktisch vollzogen. Gesetz ist in solchen vorschriftlichen Gesellschaften, was jeder weiß, dass Gesetz ist, weil es schon immer so gewesen ist und sein wird.

Dass die Kelten im und südlich des Alpenraums ein ausgeprägtes Rechtsverständnis hatten, ist uns aus einigen kleineren Episoden bekannt. Etwa die Geschichte des Senonenkönigs Brennos, unter dessen Führung keltische Truppen 387 vor Christus die Stadt Rom erobert und geplündert haben. Dieser Keltensturm auf Rom war ursprünglich nicht geplant; die Senonen hatten Krieg gegen die etwa 150 Kilometer nördlich von Rom gelegene etruskische Stadt Clusium geführt. Auf Bitte Clusiums sandte der römische Senat einen Vermittler zwischen den Kriegsparteien, der sich statt neutral zu verhalten einen der keltischen Anführer erschlug. Daraufhin entsandten die Senonen einen Botschafter nach Rom, der die Bestrafung des Missetäters verlangte. Erst als der Senat dieses Ersuchen ausschlug wandten sich die Senonen gegen Rom. Als schließlich die Belagerung gegen eine Zahlung eines Tributs von 1000 Pfund Gold beendet werden sollte, beschwerten sich die Römer, die Kelten hätten falsche Gewichte benutzt – woraufhin Brennos sein Schwert in die Waagschale geworfen und dabei „Wehe den Besiegten“ ausgerufen haben soll. Ein ähnliches Verhalten mit anderem Ausgang, haben wir auch bei der Geschichte des norischen Königs Cincibilus gesehen. Auch dieser hat nicht mit einem Rachefeldzug auf die Raubzüge des römischen Konsuls Cassius geantwortet, sondern Gesandte an den römischen Senat geschickt, die Bestrafung des Täters und Kompensation der Geschädigten gefordert. Bestraft wurde der Missetäter nicht, aber Cincibilus und sein Bruder wurden auf das großzügigste entschädigt und auch die Anführer der betroffenen Stämme.

Selbst auf höchster politischer Ebene und auch im Kontext militärischer Übergriffe scheint es also keineswegs so gewesen zu sein, dass die alpinen Kelten alle ihre Streitigkeiten durch rohe Gewaltmittel zu lösen versuchten. Vielmehr scheint bis auf höchste politische Ebenen eine gesellschaftliche Vorstellung bestanden zu haben, dass man sich auf das Gewohnheitsrecht verlassen kann und sich besser freiwillig den Urteilen unparteiischer Vermittler unterwirft als unmittelbar Streit zu suchen. All das deutet auf ein entwickeltes und wohletabliertes Rechtssystem; ein Rechtssystem, das in Absenz eines staatlichen Gewaltmonopols wie das Klientelsystem auf einer privat- bzw. vertragsrechtlichen Basis aufgebaut haben muss. Die Bedeutung dieses Vertragsrechts zeigt sich dann auch im ostalpinen Bereich, wo z. B. um 60 vor Christus der norische König Voccio seine Schwester nach Gallien entsandt hat, um den suebischen König Ariovist zu heiraten und somit ein Bündnis zwischen den ostalpinen „keltischen“ Norikern und den im süddeutschen und ostfranzösischen Raum tätigen „germanischen“ Schwaben des Ariovist zu besiegeln.

Wir können also davon ausgehen, dass keltische Gesellschaften im Ostalpenraum in der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends vor Christus durch ein entwickeltes Vertrags- und daraus abgeleitetes Gefolgschaftsrechtssystem gekennzeichnet waren. Aus den Eigenheiten dieses stabilen Rechtssystems resultierte auf politischer Ebene ein stark instabiles Herrschaftssystem, das interne Konkurrenz zwischen verschiedenen Potentaten förderte als auch zur raschen Entstehung großer Gefolgschaftsbündnisse und deren ebenso raschen Zerfall führte.

Vertiefenden Einblick in die Thematik Law and Order in the Iron Age gibt eine Vorlesung von Brennos Gründungsmitglied Raimund Karl; die einzelnen Vorträge sind als Videoaufzeichnung hier abrufbar.